Montag, 23. November 2015

Anthologie ii: Alfred Lichtenstein

Anthologien (komischer Lyrik), das bemerkte Robert Gernhardt in einem Essay zu Ringelnatz, tendieren dazu, die immergleichen Werke zu enthalten. Dieser Tendenz kann sich auch diese Sammlung kaum entziehen, dennoch sollen hier in loser Reihe einige Gedichte abseits von Bumerang und Galgenlied vorgestellt werden, die an anderer Stelle zu kurz kommen.

Alfred Lichtenstein - Die Operation 

Im Sonnenlicht zerreißen Ärzte eine Frau.
Hier klafft der offne rote Leib. Und schweres Blut
Fließt, dunkler Wein, in einen weißen Napf. Recht gut
Sieht man die rosarote Zyste. Bleiern grau

Hängt tief herab der schlaffe Kopf. Der hohle Mund
Wirft Röcheln aus. Hoch ragt das gelblich spitze Kinn.
Der Saal glänzt kühl und freundlich. Eine Pflegerin
Genießt sehr innig sehr viel Wurst im Hintergrund.

(Quelle z. B.: http://gutenberg.spiegel.de/buch/alfred-lichtenstein-gedichte-5161/42)

Bekannt ist Alfred Lichtenstein (1889-1914) heute wohl primär für seine wie für den Deutschunterricht geschaffenen Gedichte im Reihungsstil (›Die Dämmerung‹ und die mit Jakob van Hoddis' Endzeitvision ›Weltende‹ vergleichbare ›Prophezeiung‹) sowie für sein Schicksal, das der früh im 1. Weltkrieg gefallene Dichter mit anderen Expressionisten teilt, und dessen Vorahnung sich in seinem schmalen Werk an einigen Stellen findet (›Gebet vor der Schlacht‹, ›Abschied‹). ›Die Operation‹ indessen gehört kaum zu seinen vielgepriesenen Gedichten und fehlt selbst in den wichtigsten Auswahlbänden komischer Lyrik: In Hell und schnell wählten Robert Gernhardt und Klaus Cäsar Zehrer vier andere Gedichte Lichtensteins aus, Steffen Jacobs verfuhr für Die komischen Deutschen genauso, und Christian Maintz überging Lichtenstein in Der Bär verspürt an manchen Tagen... schließlich völlig. ›Die Operation‹ ist, und das könnte eine mögliche Erklärung für den offenkundigen Mangel an Popularität sein, ein vergleichsweise drastisches komisches Gedicht und nimmt damit in der deutschen Lyrik eine Sonderstellung ein. Man mag es mit Frank Wedekinds ›Der Tantenmörder‹ vergleichen, und es ist auch darauf hinzuweisen, dass Wilhelm Busch in seinen Bildergeschichten mitunter unerhörte Vorgänge ins Komische zu drehen wusste. Dennoch unterscheidet sich Lichtensteins Gedicht von diesen Bezugspunkten sichtlich: Buschs paargereimten Versen ist der Versuch, komisch wirken zu wollen, ebenso deutlich anzumerken wie Wedekinds holprigen Kreuzreimen. ›Die Operation‹ hingegen ist mindestens bis zum vorletzten Vers ein gänzlich unhübsches Werk und bietet fern vom Bänkelgesang Wedekinds ein hässliches Bild, welches erst durch das Wörtchen »freundlich« gebrochen wird. Zu welcher Tat die »[e]ine Pflegerin« anhebt, will der Leser beinahe schon nicht mehr wissen, schließlich lassen die vorangegangenen Verse das Schlimmste erahnen. Dass sie der Patientin aber keinesfalls im Körper herumstochern oder gar der Familie die grimme Botschaft überbringen möchte, sondern stattdessen lieber hingebungsvoll in eine Wurst beisst, überrascht – und ist damit komisch.
Wedekind und Busch treiben mit dem Schrecken ihr Spiel, indem sie die Geschehnisse überhöhen, formal bereits Komik suggerieren und das Entsetzen gleichsam der Lächerlichkeit preisgeben. Bei Lichtenstein ist der Kniff ein anderer, er beginnt mit dem schaurigen Bild einer blutigen Operation (das von einem für ein komisches Gedicht ungewohnten Reimschema begleitet wird), macht diese jedoch nicht lächerlich, sondern kontrastiert sie mit der verblüffenden Volte im letzten Vers. Die Form erprobte Lichtenstein schon in ›In den Abend...‹ oder ›Landschaft‹, und die unvermutete Drastik taucht bereits in ›Der Morgen‹ auf: »Ein Droschkenkutscher fällt und bricht sich das Genick. / Und alles ist langweilig hell, gesund und klar.« Wollte man Zeitgenossen Lichtensteins bemühen, so wären eher Gottfried Benns Gedichte (etwa ›Kleine Aster‹ mit dem »ersoffene[n] Bierfahrer«) als Vergleich für ›Die Operation‹ heranzuziehen als Werke van Hoddis' oder gar Morgensterns und Ringelnatz'. Vor allem aber empfiehlt sich ein Blick nach Großbritannien, wo neben William Schwenck Gilbert auch Harry Graham (zum Beispiel in Ruthless rhymes for heartless homes) mit kühl vorgetragenen Versen und Wortspielen über wenig heitere Vorkommnisse reüssierte: »Baby in the caldron fell, – / See the grief on mother's brow; / Mother loved her darling well, – / Darling's quite hard-boiled by now.«

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