Dienstag, 6. Juni 2017

Notizen zur Poetik (1)

Notizen zu (meist absichtlich komischen) Gedichten, Fragmente, aufgegebene Aufsätze, Listen, poetologische Gedichte. Los geht's!

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In F. W. Bernsteins neuem Band »Frische Gedichte« sind auf Seite 98 folgende Verse zu lesen: »Er wacht auf, und was ist er? / Professor. Doch Goethe: Minister!« Wie bemerkenswert ist das? Ein bisschen schon. Wer nämlich gespaltenen Reimen in der komischen deutschsprachigen Lyrik nachspüren möchte, wird insgesamt nicht vielen Reimpaaren begegnen, dafür einem immer wieder, und zwar eben: »ist er / Minister«. Allein in Bernsteins Sammlung »Die Gedichte« von 2003 ist es gleich zweifach anzutreffen: »Der Vierte – Obacht, Herr Minister! / Direkt vor Ihnen! Ganz vorn! Da ist er!« sowie etwas versteckter: »Senator Radunski, der Doppelminister, / ein zwiefaches Verhängnis ist er.«

Erich Mühsam benutzte das Reimpaar doppelt, und zwar in den Varianten »ist er / Wehrminister« und »Minister / ist er«; Ringelnatz einmal (»Sehr ernste Vize, seht: da ist er! / Das ist der Unterrichtsminister«), Eugen Roth (»Jetzt endlich, an der Reihe ist er – / Da heißts: ›Der Herr muss zum Minister!‹«) und Ror Wolf dito (»Etwa beispielsweise der Minister, / der Justizminister, na, wo ist er?«); und bei Kurt Tucholsky finden sich gar drei Beispiele (die der geneigte Leser sich selbst zusammensuchen darf).
Warum? Wozu? Was finden die Dichter an diesem Reimpaar? Ist das alles nur ein Ausweichmanöver angesichts der Tatsache, dass auf Kanzler nichts reimt, dass sich auf die auf der letzten Silbe betonte Kanzlerin wenig mehr als Gewinn oder ist in reimt und dass sich Präsidenten nur unrein beschimpfen bzw. dann aber auch immerhin schänden lassen? Oder reizt sie das vorsichtige Infragestellen von Autorität, das bei »Ist er / Minister« am Zeilenende ohnehin mitschwingt und manchmal, wie von Walter Mehring, auch explizit formuliert wird: »Und kann er nichts, dann ist er / Zum mindesten Minister«?

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Gutes Zitat von Peter Rühmkorf (aus »Einfallskunde«): »Die gähnende Leere in manchen modernen Gedichten – zumal der neuen Zimperlichkeit. Lyriker, die einfach nicht kapieren wollen, dass auf so eng begrenztem Raum an jeder Stelle was los sein muss.«

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Der schönste, nein: der einzige schöne rührende Reim gelang gewiss der amerikanischen Band The Magnetic Fields in ihrem Song »The Death of Ferdinand de Saussure«:
»I met Ferdinand de Saussure
On a night like this.
On love he said, »I'm not so sure
I even know what it is.«
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Literaturkritik

Manchmal weiß der Mensch noch nicht von
Dummheit, Elend, Not und Leid.
Doch dann liest er ein Gedicht von
Erich Fried. Und weiß Bescheid.

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Ein trochäischer Satz findet sich im Wikipedia-Artikel zum Europäischen Aal: »Aale schlüpfen im Atlantik, in der Saragossasee (in der Nähe der Bahamas).« Bzw.:
»Aale schlüpfen im Atlantik,
in der Saragossasee
(in der Nähe der Bahamas).«
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Poetry-Slam-Reime:

Schau mal: / Blauwal!
wohlfeil / Lo-fi
Leitstern / streit gern
versehentlich / auf Zehen schlich
Schlachtgewimmel / lacht der Himmel
Fafnir / Schaffner
Eiklar / Fighter
Allahu Akbar / Nachbar
Weiberheld / Cyberwelt
Hinterkaifeck / Scheißdreck

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Ich erstand auf einem Bücherflohmarkt vor mehreren Jahren aus Versehen für einen Euro das Buch »Nachts unter Sternen« (1962), das nachgelassene Texte von Ernst Emanuel Krauss versammelt (über den Wikipedia weiß, dass seine Sprüche »1935 u. a. in den Arbeitszimmern von Adolf Hitler und seinem Stellvertreter« hingen). Die Gedichte und Aphorismen sind erwartbar öde (»O goldnes Dämmerblinken / hier unter meinem Baum!«), und so haben mich nur zwei Namen bei der Lektüre wachhalten können: Krauss schrieb unter dem passenden Pseudonym Georg Stammler, das Buch wurde herausgegeben von der Wilhelm Kotzde-Kottenrodt Gemeinde (nur echt mit einem Bindestrich). Na ja, für eine Kaufempfehlung reicht das nicht.

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3 Fremdwortreime von Kurt Tucholsky:

kosten / Boston
Hotels / health
Herrentoiletten / Manhattan

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