Mittwoch, 23. Dezember 2015

B-Seiten 2015

Salomo Friedlaender alias Mynona, von dem das lateinische Motto dieses Blogs stammt, übersetzte den (wiederum von Horaz geborgten) Satz folgendermaßen: »Großes gewollt zu haben genügt.« Bei einem Blick auf die bisher veröffentlichten Gedichte fällt jedoch auf, dass ich dieser Vorgabe durchaus nicht folgte, schließlich jagt hier ein Hit den nächsten, Ausschuss- ist zugleich Mangelware. Eine irre Dichte an Highlights. Na ja, zumindest fast. 
Jetzt zum Ende des Jahres kann ich ja endlich mit dem Bekenntnis rausrücken: Nicht jedes meiner Gedichte ist auch rundweg gelungen, viele hielt ich bislang aus Scham zurück. Denn wenngleich mancher erste Vers verheißungsvoll anhebt, manches Reimpaar weißgottwieinnovativ ausfällt und manche Pointe immerhin mit originell in Anführungszeichen hinreichend beschrieben ist: An Klassiker wie »Junger Journalismus, junge Themen«, »Gesang des Germanisten« oder das »Kabarettsonett« kommen sie nicht heran.
Unten eine Auswahl an zähen Zeilen, miesen Metaphern und verstolperten Gags, die im Jahr 2015 entstanden!

----

I: Meine literarische Karriere begann in diesem Jahr mit einem echten Paukenschlag bei den Prinzessinnenreportern (an die tagesaktuellen Umstände wird sich vermutlich niemand mehr erinnern). Dort erschien die improvisierte und verlängerte Version eines Frühlingsgedichts, das hier in seiner Originalfassung veröffentlicht wird:

Nachspürgedicht

Der Frühling naht! O liebe Sonne, brenne!
Die Wiesen glühn bereits vor erstem Grün,
auf Felder sieht man Bauern Gülle sprühn.
Die Krokusse, die Hyazinthen blühn,
und andre, deren Namen ich nicht kenne.

----

II: Für eine noch etwas detaillierter auszuarbeitende komische Oper zum Gesundheitswesen:

Lied des Internisten (Fragment)

»Ach, wäre ich doch bloß nicht Arzt und hätt ich
etwas Vernünftiges (wie Kunst) studiert!
Dann wär das eben keinesfalls passiert,
mit dieser sehr, sehr armen Frau. Das wett ich.

Woher weiß ich denn, was ein
›Hämatom‹ ist?
Ich bin bloß Doktor, kein gelehrter Mann.
Am Dienstag treffe ich sie wieder an-
lässlich der Trauerfeier, die im Dom ist.

Nun denn, zu Ihnen
, oh nein, Schwester Ruth, sehn
Sie bitte nach: Wie geht es dem Verband?
Ich hab noch Dings, na: Keime an der Hand,
und kann, Sie ahnen es vielleicht, kein Blut sehn.
«

----

III: Judith Holofernes' erster Gedichtband, der sich exklusiv mit der Tierwelt beschäftigt, wurde von der Kritik wenig euphorisch aufgenommen. In jeder Buchhandlung allerdings ist er exponiert ausgestellt, er verkauft sich mithin mutmaßlich ordentlich. Da ich schon immer ein gewisses Interesse an Geld hatte, entstand ein eigenes Tiergedicht. Mit den entsprechenden Illustrationen könnte es sich um ein Millionengeschäft handeln (Suhrkamp?).

Pläne

Wenn ich ein Pferd wär, wär ich gerne Hund,
und wenn ich Hund wär, dann noch lieber Qualle.
Als solche zög ich alle Menschen (und

wenn ich hier alle sag, mein ich auch: alle)
mit meinen Nesseln auf den Meeresgrund
und lachte mir die Quallenkehle wund. 


 ----

IV: Ungleich drolliger geht es hier zu:

Begegnung

Ein Hund sieht einen andern Hund. (Die Welt
ist reich an Tieren, und so kanns geschehen,
dass zwei sich plötzlich gegenüberstehen.)
Er hebt den Schwanz und räuspert sich. Und bellt.

Sein Gegenüber: dito. Allerhand!
Da springt er los, sich seinen Feind zu krallen,
und merkt erst, als die Scherben auf ihn fallen,
dass er allein vor einer Glastür stand.


----

V: Im Sommer erfanden Bürger in Heidenau unter den interessierten Blicken der Einsatzkräfte die Willkommenskultur. Zum Glück existierte dieser Blog damals noch nicht, unter allerlei engagierten Versen jener Tage ist dieses Lied wohl noch das vorzeigbarste Werk (wenngleich es den Polizisten aus »The Pirates of Penzance«, die bloß feige sind, Unrecht tut.)

Lied der Polizei
Zu singen auf »When a felon's not engaged in his employment« aus Gilbert & Sullivans »The Pirates of Penzance«.

»Wenn besorgte Bürger nicht das Volk verhetzen,
oder fackelschwanger durch die Straßen ziehn,
sind sie liebe Menschen, die den Frieden schätzen,
und trotzdem nicht in den freien Westen fliehn.
Doch an diesen Umstand sollen wir nicht denken,
wenn man uns zu einem Flüchtlingseinsatz zwingt.
Ach, wie gern wir unsern Schlagstock manchmal schwenken!,

aber gegen gute Deutsche nur bedingt.

Wenn man uns zu einem Flüchtlingseinsatz zwingt,
drangsaliern wir gute Deutsche nur bedingt.

Wenn ein Sachse nicht auf einen Syrer einsticht,
wenn ein Hesse nicht das Wessel-Lied skandiert,
schaun sie gerne, wie ein Segler in den Rhein sticht,
und hörn zu, wenn eine Lerche tiriliert.
Schimpft ein Nazikader grade nicht auf Juden,
sieht man ihn von seiner Kinderschar umringt.
Gutenachtgeschichten liest er aus dem Duden,
auch wenn das (vgl. Facebook) nicht viel bringt.

Wenn man uns zu einem Flüchtlingseinsatz zwingt,
drangsaliern wir gute Deutsche nur bedingt.
«

----


VI: Die Anapher ist das Stilmittel der Stunde; und das war sie, wie dieses Sonett beweist, bereits im Oktober. Die Wendung im zweiten Terzett soll diesem Blog endlich die zahlenmäßig bedeutende Zielgruppe der christlichen Lyrikfans erschließen.

Oktobersonett

Nun ist es Herbst. Das musste ja geschehen.
Die Tage graun wie Vollkornknäckebrot,
und alles Laub verfärbt sich gelb und rot:
Das ist bekannt und nicht zu übersehen.

Nun ist es Herbst. Und jeder Idiot
reimt in Sonettform, dass die Winde wehen,
und dass in weichen Wäldern Pilze stehen,
die man nicht essen sollte. Sonst droht Tod.

Nun ist es Herbst, ich muss mich wiederholen.
Mitunter regnet es. Mitunter nicht.
Und manchmal ragt die Sonne ins Gedicht,

als hätte es ein guter Gott befohlen:
Dann freut man sich am Himmlischen, der wahr ist,
und hofft, dass dieser Schnupfen kein Katarrh ist. 


----

VII: Apropos letzte Themen! Apropos Herbst! Apropos Pilze!

Ausflug im Herbst 

»Siehst du die Gänse dort am Himmel schweben?
Sie fliegen nach
, ach, was weiß ich wohin.
Ich kann dir keine nähren Infos geben:
Bei Tieren liege ich zu oft daneben,
weil ich statt Zoologe Vater bin.

Hörst du das raue Rascheln in den Weiden?
Es könnten allerdings auch Buchen sein...
Ich konnte Bäume leider nie recht leiden,
und möchte mich in dem Fall nicht entscheiden.
Ich hoffe doch, das kannst du mir verzeihn.

Willst du von diesen Pilzen mal probieren?
Ich kann dir sagen, welche essbar sind:
Nimm die! Sie schmecken, das siehst du an ihren
sehr weißen Pünktchen, die das Rote zieren.
Das lernte ich als kleines Kind.

                                                    Kind!
                                                              Kind?
«

----

VIII: Mit Recht wird immer wieder moniert, in meinen Gedichten spiele das heikle Feld der Romantik praktisch keine Rolle. Als Ausgleich ein veritabler, schichtenüberwindender Liebesjubel:

Liebeserklärung

»Du magst zwar nur ein Bauer sein,
mit Schweinen, Feldern, Hofgut;
Dein Himmel dürfte blauer sein,
du könntest sehr viel schlauer sein,
so wie Christopher Lauer sein...
Du darfst jetzt bloß nicht sauer sein,
denn sieh: Ich find dich doof gut!«

----

IX: Darf man über Hitler Witze machen? Ich war mir nicht sicher, daher entschied ich mich für ein unverfänglicheres Thema wie Islamismus. Die Form ist Thomas Gsellas Fabel-Kapitel aus Materialien zu einer Kritik Leonardo DiCaprios entlehnt.

Fabel

Den Storch aus Marburg an der Lahn
warf man vor kurzem aus der Bahn,
nachdem er wild durch diese lief
und laut »Allahu akbar!« rief.
Moral: Man sollte leise sein
und nicht »Allahu akbar!« schrein.

----

X: Die Reizthemen Liebe, Wetter und Reim trafen im September aufeinander, das titellose Ergebnis beeindruckt und macht betroffen.

Wenn du mich liebst, dann sei so gut
und dreh das Jahr zurück, ohja!
Das wär ein großes Glück, ohja!
(Ich finde doch den Mai so gut!)

----

XI: Na ja:

Fußballsonett

»Im Grunde ist das Spiel nach Plan verlaufen.
Wir kamen, glaub ich, ziemlich gut hinein.
Dann stand der Torwart hinten ganz allein,
und vorne warn wir ein zu wilder Haufen.

Sie schenkten uns dann ein paar Tore ein.
Naja. Wir können uns dafür nichts kaufen.
Sie machten alle Räume eng und auf en-
gem Raum tritt man sich selber auf sein Bein.

Wir müssen noch an unsrer Taktik schrauben.
Wir leiden nicht an loser Disziplin.
Doch an den Titel, der schon sicher schien,

darf im Moment der Rest der Liga glauben.
Was solls, ich werd jetzt erstmal duschen gehen.«
Hier könnte eine Ihre? Pointe stehen.

----

XII: Eine sehr kleine Übersetzung aus dem Englischen:

Würdigung (Harry Graham-Übertragung: »Appreciation«)

Tantchen, fühlst du keine Qual
nach dem Sturz vom Apfelbaum?
Fall doch bitte noch einmal,
denn mein Freund hier sah es kaum.

----

XIII: Ursprünglich war für die zweite Hälfte des Dezembers ein umfangreicher zyklischer Jahresrückblick auf diesem Blog geplant. Mit Bestürzung musste ich indessen zur Kenntnis nehmen, dass es dergleichen bereits in ungebundener Sprache, Privatfernsehen und Printerzeugnissen gibt; bisweilen sogar mit noch mehr Expertise!

Jahresrückblick: Wirtschaft

Zu Währungsfragen weiß ich nichts zu schreiben.
Ich hab auch keine Ahnung vom Dow Jones,
kenn keine Konsequenz des Mindestlohns,
und nicht die neusten Trends bei Fensterscheiben*.

Wer weiß, was Immobilienmakler treiben?
Ich nicht, ich hab ein Zimmer und bewohns.
Das reicht. Der ganze Mist kann , ich betons:
Der ganze Mist kann mir gestohlen bleiben.

O Wirtschaft, fürchterliche Unbekannte!
Schriest du auch laut, ich hielt es für Gesumm.
selbst Eilmeldungen, die die SpOn-App sandte,

hab ich stets weggeklickt. Das ist jetzt dumm.
Ich weiß nun also nicht mal, was VW tat,
und hoffe nur, sie stärkten ihren Etat.

*: Q: Wieso Fensterscheiben? A: Weil sich kaum etwas vernünftig auf -eiben reimt. 

Mittwoch, 16. Dezember 2015

Jahresrückblick eines Kolumnisten

Jahresrückblick eines Kolumnisten

»In Frankreich und in Sachsen wachsen Glatzen,
die GroKo fuhr uns alle an die Wand.
Im Frühling starb der klügste Kopf im Land,
seither hört man die Dschihadisten platzen.

Der Westen bombardiert, statt mit Verstand,
Geduld und Herz den Terror matt zu schwatzen.
Nur der Iran will keine Matzen schmatzen.
Cui bono? Na, das liegt doch auf der Hand!

Sie rätseln noch, weshalb die Welt so scheel is?
Schuld sind die Amis. Und die Israelis.
Dank ihnen glüht der Globus vor Beschwerden.

Wie lässt sich das im neuen Jahr verwinden?
Die Einzelheiten sollten sich noch finden, –
doch der IS muss zur Atommacht werden!«

Freitag, 4. Dezember 2015

Frühdezemberstanze

Frühdezemberstanze

Weltklimagipfelwetter. Es adelet
im Kaufhausradio. Das ist nicht sehr gut.
Weil dies und manches andere missfällt,
trinkt man viel Weihnachtsmarktpunsch. Der spart Leergut,
doch leider ist er schwer versalmonellt,
und folgerichtig geht's dem Bauch nicht mehr gut.
So speit man also dann an Nikolaus
nebst Glühwein Marzipan und – iih! – Kohl aus.

Freitag, 27. November 2015

Spätnovemberstanze

Spätnovemberstanze 
Nebst ergötzlicher Nutzanwendung

Dass der Dezember naht, sagt schon die Headline.
Erst fiel der Schnee. Dann floss er wieder fort.
Am besten bleibt man wochenlang im Bettlein,
und wechselt mit dem Rest der Welt kein Wort.
Hört meinen Rat: Schwärmt aus ins Internet, Lai'n!
Das ist ein trockener und warmer Ort,
voll wunderlicher, wunderbarer Wesen.
(Man darf nur nicht die Kommentare lesen.)

Mittwoch, 25. November 2015

Junger Journalismus, junge Themen

Junger Journalismus, junge Themen
Modest Proposals


Was sagt ein Selfie über deinen Rücken?
Darfst du dich selber entnazifiziern?
Sind deine Freunde bloß Computervirn?
Im Test: Survival-Training in Saarbrücken.

Karrieretipp: jetzt BWL studiern!
Weswegen heißen Mücken meistens Mücken?
Kann man mit GIFs echt Weihnachtsbäume schmücken?
Ein unterschätzter Snack: die Nebenniern.

Was macht mehr Freude, Armut oder Wohlstand?
So gut ist Feminismus für die Haut!
Hat Goethe Faust von Kanye West geklaut?

War Pracht ein Wert, für den einst Helmut Kohl stand?
Ein Islamist packt aus: »Weshalb ich totschieß!«
So lief der 2. Weltkrieg (in Emojis).

Montag, 23. November 2015

Anthologie ii: Alfred Lichtenstein

Anthologien (komischer Lyrik), das bemerkte Robert Gernhardt in einem Essay zu Ringelnatz, tendieren dazu, die immergleichen Werke zu enthalten. Dieser Tendenz kann sich auch diese Sammlung kaum entziehen, dennoch sollen hier in loser Reihe einige Gedichte abseits von Bumerang und Galgenlied vorgestellt werden, die an anderer Stelle zu kurz kommen.

Alfred Lichtenstein - Die Operation 

Im Sonnenlicht zerreißen Ärzte eine Frau.
Hier klafft der offne rote Leib. Und schweres Blut
Fließt, dunkler Wein, in einen weißen Napf. Recht gut
Sieht man die rosarote Zyste. Bleiern grau

Hängt tief herab der schlaffe Kopf. Der hohle Mund
Wirft Röcheln aus. Hoch ragt das gelblich spitze Kinn.
Der Saal glänzt kühl und freundlich. Eine Pflegerin
Genießt sehr innig sehr viel Wurst im Hintergrund.

(Quelle z. B.: http://gutenberg.spiegel.de/buch/alfred-lichtenstein-gedichte-5161/42)

Bekannt ist Alfred Lichtenstein (1889-1914) heute wohl primär für seine wie für den Deutschunterricht geschaffenen Gedichte im Reihungsstil (›Die Dämmerung‹ und die mit Jakob van Hoddis' Endzeitvision ›Weltende‹ vergleichbare ›Prophezeiung‹) sowie für sein Schicksal, das der früh im 1. Weltkrieg gefallene Dichter mit anderen Expressionisten teilt, und dessen Vorahnung sich in seinem schmalen Werk an einigen Stellen findet (›Gebet vor der Schlacht‹, ›Abschied‹). ›Die Operation‹ indessen gehört kaum zu seinen vielgepriesenen Gedichten und fehlt selbst in den wichtigsten Auswahlbänden komischer Lyrik: In Hell und schnell wählten Robert Gernhardt und Klaus Cäsar Zehrer vier andere Gedichte Lichtensteins aus, Steffen Jacobs verfuhr für Die komischen Deutschen genauso, und Christian Maintz überging Lichtenstein in Der Bär verspürt an manchen Tagen... schließlich völlig. ›Die Operation‹ ist, und das könnte eine mögliche Erklärung für den offenkundigen Mangel an Popularität sein, ein vergleichsweise drastisches komisches Gedicht und nimmt damit in der deutschen Lyrik eine Sonderstellung ein. Man mag es mit Frank Wedekinds ›Der Tantenmörder‹ vergleichen, und es ist auch darauf hinzuweisen, dass Wilhelm Busch in seinen Bildergeschichten mitunter unerhörte Vorgänge ins Komische zu drehen wusste. Dennoch unterscheidet sich Lichtensteins Gedicht von diesen Bezugspunkten sichtlich: Buschs paargereimten Versen ist der Versuch, komisch wirken zu wollen, ebenso deutlich anzumerken wie Wedekinds holprigen Kreuzreimen. ›Die Operation‹ hingegen ist mindestens bis zum vorletzten Vers ein gänzlich unhübsches Werk und bietet fern vom Bänkelgesang Wedekinds ein hässliches Bild, welches erst durch das Wörtchen »freundlich« gebrochen wird. Zu welcher Tat die »[e]ine Pflegerin« anhebt, will der Leser beinahe schon nicht mehr wissen, schließlich lassen die vorangegangenen Verse das Schlimmste erahnen. Dass sie der Patientin aber keinesfalls im Körper herumstochern oder gar der Familie die grimme Botschaft überbringen möchte, sondern stattdessen lieber hingebungsvoll in eine Wurst beisst, überrascht – und ist damit komisch.
Wedekind und Busch treiben mit dem Schrecken ihr Spiel, indem sie die Geschehnisse überhöhen, formal bereits Komik suggerieren und das Entsetzen gleichsam der Lächerlichkeit preisgeben. Bei Lichtenstein ist der Kniff ein anderer, er beginnt mit dem schaurigen Bild einer blutigen Operation (das von einem für ein komisches Gedicht ungewohnten Reimschema begleitet wird), macht diese jedoch nicht lächerlich, sondern kontrastiert sie mit der verblüffenden Volte im letzten Vers. Die Form erprobte Lichtenstein schon in ›In den Abend...‹ oder ›Landschaft‹, und die unvermutete Drastik taucht bereits in ›Der Morgen‹ auf: »Ein Droschkenkutscher fällt und bricht sich das Genick. / Und alles ist langweilig hell, gesund und klar.« Wollte man Zeitgenossen Lichtensteins bemühen, so wären eher Gottfried Benns Gedichte (etwa ›Kleine Aster‹ mit dem »ersoffene[n] Bierfahrer«) als Vergleich für ›Die Operation‹ heranzuziehen als Werke van Hoddis' oder gar Morgensterns und Ringelnatz'. Vor allem aber empfiehlt sich ein Blick nach Großbritannien, wo neben William Schwenck Gilbert auch Harry Graham (zum Beispiel in Ruthless rhymes for heartless homes) mit kühl vorgetragenen Versen und Wortspielen über wenig heitere Vorkommnisse reüssierte: »Baby in the caldron fell, – / See the grief on mother's brow; / Mother loved her darling well, – / Darling's quite hard-boiled by now.«

Freitag, 20. November 2015

Volkslied

Volkslied (feat. Johann Gaudenz von Sallis-Seewis)

Braun sind schon die Wälder,
grau die Stoppelfelder,
denn der Herbst begann.
Hagel schlägt und viele
Fußball-Länderspiele
pfiff kein Schiri an.

Terrorsorgen wachsen,
pittoresk liegt Sachsen:
wie von Bosch gemalt.
Abends gibt's kein Licht mehr,
Mancher Mensch wird nicht mehr
von der WELT bezahlt.

Nächtens friert's die Spinnen,
Helmut Schmidt fuhr in 'nen
Kanzlerhimmel ein.
Jedermann beeidet,
während Westwind schneidet,
ohne Furcht zu sein.

Geige tönt und Naidoo:
Wär das Land bloß frei, du!,
von der Hochfinanz...
Willst du schon verschwinden,
Herbst? Komm, reih dich in den
deutschen Ringeltanz.

Sonntag, 15. November 2015

Anthologie i: Hanns von Gumppenberg

Anthologien (komischer Lyrik), das bemerkte Robert Gernhardt in einem Essay zu Ringelnatz, tendieren dazu, die immergleichen Werke zu enthalten. Dieser Tendenz kann sich auch diese Sammlung kaum entziehen, dennoch sollen hier in loser Reihe einige Gedichte abseits von Bumerang und Galgenlied vorgestellt werden, die an anderer Stelle zu kurz kommen.

Hanns von Gumppenberg - Sommermädchenküssetauschelächelbeichte

An der Murmelrieselplauderplätscherquelle
Saß ich sehnsuchtstränentröpfeltrauerbang:
Trat herzu ein Augenblinzeljunggeselle
In verweg’nem Hüfteschwingeschlendergang,

Zog mit Schäkerehrfurchtsbittegrußverbeugung
Seinen Federbaumelriesenkrämpenhut –
Gleich verspürt’ ich Liebeszauberkeimeneigung,
War ihm zitterjubelschauderherzensgut!


Nahm er Platz mit Spitzbubglücketückekichern,
Schlang um mich den Eisenklammermuskelarm:
Vor dem Griff, dem grausegruselsiegesichern,
Wurde mir so zappelseligsiedewarm!
Und er rief: »Mein Zuckerschnuckelputzelkindchen,
Welch ein Schmiegeschwatzeschwelgehochgenuß!«
Gab mir auf mein Schmachteschmollerosenmündchen
Einen Schnurrbartstachelkitzelkosekuß.

Da durchfuhr mich Wonneloderflackerfeuer –
Ach, das war so überwinderwundervoll ...
Küßt’ ich selbst das Stachelkitzelungeheuer,
Sommersonnenrauschverwirrungsrasetoll!
Schilt nicht, Hüstelkeifewackeltrampeltante,
Wenn dein Nichtchen jetzt nicht knickeknirschekniet,
Denn der Plauderplätscherquellenunbekannte
Küßte wirklich wetterbombenexquisit!!  

nach O. J. Bierbaum und anderen Wortkopplern
Quelle z. B.: https://de.wikisource.org/wiki/Sommermädchenküssetauschelächelbeichte

Das Gedicht ›Sommermädchenküssetauschelächelbeichte‹ stammt aus dem Band Das teutsche Dichterross, den Hanns von Gumppenberg (1866-1928) erstmalig 1901 veröffentlichte und der Parodien auf Dichter des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts enthält. Zielsicher (wenngleich bisweilen etwas zu zahm) knüpft von Gumppenberg sich zum Beispiel Rückert, Heine und Eichendorff, Liliencron, Dehmel und Rilke vor, und insbesondere im Falle Otto Julius Bierbaums ersparen die beiden nachgedichteten Werke den Blick in die originalen Gedichtbände (etwa in den passend betitelten Irrgarten der Liebe. Sein komischer Schlüsselroman Stilpe über einen scheiternden Künstler hingegen ist noch heute lesenswert.).
Ferner hervorzuheben sind ›Die Haide‹, ›Das Oadelwoass‹ sowie ›Liebesjubel‹; und besonders ausführlich schließlich widmet von Gumppenberg sich den Gedichten und Prosastücken Paul Scheerbarts. In seinen Erinnerungen schreibt er darüber folgendermaßen: »Als ich einmal den Abend mit Scheerbart in dessen armseliger Wohnung verbrachte, kam ich auf den Einfall, eine Anzahl kleiner Skizzen in seinem Stil zu improvisieren, ich schrieb und schrieb gleich ein ganzes Dutzend auf lose Quartblätter, wie es mir gerade in den Bleifstift kam. Scheerbart aber, frei von eitler Verletzung, hatte seine helle Freude daran, ja steuerte selbst zu jeder Skizze den Titel und Untertitel bei. Die Mehrzahl dieser Parodien habe ich dann später, samt jener Scheerbartschen Überschrift, in das Teutsche Dichterroß mit aufgenommen.«
Es steht zu vermuten, dass beispielsweise Stefan George, den von Gumppenberg ebenfalls verspottete, anders reagiert hätte.

Donnerstag, 12. November 2015

Gesang des Germanisten

Gesang des Germanisten
(Melodie: wie die Strophen in ›At the outset I may mention‹ aus Gilbert & Sullivans The Grand Duke. Mit zunehmender Verzweiflung vorzutragen.)

Ständig werde ich verlacht und
nur mit Hohn und Spott bedacht und
damit muss nun endlich Schluss sein. Ja: Ich bin ein Germanist!
Trotzdem sollten Sie mich schätzen,
denn ich bin nicht zu ersetzen.

Ich verrate nun, weshalb das, was ich mache, wichtig ist:

Niemand außer mir würd je die
Einkaufszettel Goethes edi-
tionsgerecht zusammentragen. Und im Prachtband publiziern.
Gäb es mich nicht: Keiner wüsste,
wann George wen wie küsste;
ich kann so etwas durch einen Zeilensprung rekonstruiern.

Nur dank mir und meinesgleichen
weiß man, was die Fragezeichen
in den Werken Eichs und Eichendorffs bedeuten sollen: Geist.
Ich entdeckte Scheerbarts Flunder,
und so nimmt's durchaus nicht wunder,
dass man mich bisweiln den
Däniken der Hermeneutik heißt.

Wandern kann ich wie Fontane
(die Gedichte und Romane
dieses Realisten laden förmlich zum Entfliehen ein).
Mir geht selten mal der Mut aus,
nur bei Grass neig ich zu Wutaus-
brüchen. Um mich zu beruhigen, schau ich dann bei Klopstock rein.

Ich find raus, wo Walter Muschg saß,
als er erstmals Wilhelm Busch las,
und dass dies kein reiner Reim war, merk ich an
wenn man mich lässt.
Über Lyrik denk ich wie Benn,
und wie Heine über's Lieben.
Sekundärliteratur erschloss den ganzen großen Rest.

Sehn Sie zu, wenn ich gleich Frenzel
durch die deutsche Dichtung tänzel!
(Jedoch hätte ich ihr ungern andre Grenzen einverleibt.)
Lesen Sie, wenn ich wie Hegel
durch die Welt des Geistes segel
und den Schlegel, nein: Brentano rüg, bis nur ein Wundmal bleibt.

Das beherrsch ich, und noch viel mehr;
weiß schon über Hauptmanns
Thiel mehr,
als der durchschnittliche Lehramtsersti bloß ertragen kann.

Also: Falls Sie eine Stelle
oder wenigstens Novelle,
die ich untersuchen könnte, haben: Rufen Sie mich an!

Dienstag, 10. November 2015

Kabarettsonett ii

Kabarettsonett ii: Am Esstisch eines Kleinkünstlers

»Die Welt ist schlecht. Sie sollten mir vertrauen,
wer spricht, hat recht: Das ist ein deutscher Brauch.
Den Reichen schwimmt der Kaviar im Bauch,
und ich muss hier an einem Schwarzbrot kauen...

Für die da oben (Merkel, Gauch und Jauch)
ist kaum ein adäquates Wort zu bauen.
Der Steputat schlägt ›Grauen‹ vor und ›Hauen‹,
doch ›Plauen‹ taugt mir als Metapher auch.

Die nehmen! Und wir geben! Welch ein Irrsinn!
Das hat vor mir noch niemand je erkannt.
Wir sollten's ändern, schließlich haben wir's in

der Hand. Auf geht's, verwandeln wir das Land!
Dann los, der Umsturz nehme seinen Lauf!
Doch gehn Sie vor. Ich esse erst noch auf.«

Montag, 9. November 2015

Kriminalsonett ii

Kriminalsonett ii: Erpressung

B. brauchte Geld. Am besten 'ne Million.
Weshalb? Das hat hier nicht zu intressieren.
So kidnappte er eines Tags den Sohn
des Bürgermeisters. Diesem schrieb er: »Ihren

Spross hab ich. Und ihm geht es gut, obschon:
Sie werden ihn, falls Sie nicht zahln, verlieren.
Beeiln Sie sich, bekommen Sie zum Lohn
den Sohn. PS: Verzeihn Sie die Manieren.«

In Sorge, alle Scheine sei'n markiert,
beharrte B. strikt auf 2-Euro-Stücken.
Die Münzen wurden schließlich deponiert,

um sie zu holen wollte B. sich bücken:
Er hob, doch brach sich seinen rechten Arm dran.
Und danach kriegte ihn rasch ein Gendarm dran.

Samstag, 7. November 2015

Übertragung der Bab Ballad ›The sailor boy to his lass‹ von William Schwenck Gilbert

Übertragung der Bab Ballad ›The sailor boy to his lass von William Schwenck Gilbert

Mich ruft die See, noch heute geh
ich los und fahr aufs Meer, Matilda!
Halt dich bereit, bald ist es Zeit:
um drei Uhr ungefähr, Matilda;
Ich weiß sehr viel, doch nicht das Ziel,
ob's nah ist oder fern, Matilda,
denn Captain Hyde ist nicht gescheit,
und spricht mit mir nicht gern, Matilda!

Ein Schwein! Allein: Ich krieg ihn klein,
und zwing ihn, coûte a coûte, Matilda!
Bin ich auch schlecht, ich hab ein Recht
auf Kenntnis unsrer route, Matilda!
Herrjemine!, ich bin ein See-
mann, ganz genau wie er, Matilda!
Und auch, was man kaum leugnen kann,
ein Mensch. Ich mach was her, Matilda!

Es tut mir leid, das führt zu weit!
Ich lieb dich wie verrückt, Matilda.
Nun hör mich an: Nimm mich zum Mann,
wenn meine Reise glückt, Matilda!
Du bist bewegt und aufgeregt,
verliebt erglüht dein Blut, Matilda.
Wärst du schon mein! Doch was heißt dein
»Dir geht es wohl zu gut!«, Matilda?

Oh, ich versteh, was ich hier seh,
auch wenn du nicht viel sagst, Matilda.
Du atmest schwer und schleichst umher,
sodass du lautlos klagst, Matilda!
Du stöhnst, verpönst, argwöhnst und höhnst,
ach, bitte lass das, ja, Matilda?
Du spottest und schürzt deinen Mund:
Aus dem presst du ein »Bah!«, Matilda.

Den Kelch hebst du, doch hör mir zu,
trink aus der Lethe nicht, Matilda!
Oft übte ich, erinnre dich,
für dich allein Verzicht, Matilda!
Bekamst du's mit, wie sehr ich litt?
Nicht alles war profan, Matilda!
Ob früh, ob spat was ich auch tat,
ich hab's für dich getan, Matilda!

Was, »keinesfalls!«? Weißt du noch, als
ich dich, doch nicht allein, Matilda,
mit einem Mann vor Zeiten an-
getroffen hab? Kann's sein, Matilda?
Du saßt (und wie!) auf seinem Knie
der Anblick tat nicht wohl, Matilda!
Du spieltest zart mit seinem Bart
ich brauchte Alkohol, Matilda!

Ich kannte ihn nicht, doch mir schien,
ich sähe Liebelei, Matilda.
Ich tobte sehr, griff zum Gewehr,
und schoss den Kerl entzwei, Matilda!
Denn ich bin hart, nicht zarter Art,
und das ist wunderbar, Matilda!
Indes: Es reut mich noch bis heut,
dass er dein Vater war, Matilda!

Ich habe oft umsonst gehofft,
mein Leben war ein Mief, Matilda;
Meist lag ich, ach!, mit Zahnweh wach,
bis ich dann endlich schlief, Matilda;
Ich hab mal fast die Bahn verpasst,
ich musste häufig friern, Matilda,
und schnitt ins Kinn, denn leider bin
ich nicht gut im Rasiern, Matilda!

Indes: Genug kein Zahn, kein Zug
so glaub mir bitte das, Matilda,
nicht karge Kost, nicht strammer Frost,
ja schwerlich irgendwas, Matilda,
tut mir so leid auf alle Zeit,
wie, dass im letzten Jahr, Matilda,
das Opfer meiner Wut grad dein
geliebter Vater war, Matilda!

So denke nur an meinen Schwur,
ich hielt bis heute Wort, Matilda:
Nie bleibe ich verschiedentlich
zu lange von dir fort, Matilda!
Nur mit viel Kraft hab ich's geschafft:
Ich brach Moral und Recht, Matilda,
war unbequem... trotz alledem
behandelst du mich schlecht, Matilda!

Denk: Einst im Boot, vor Not halbtot,
bat ich den Kapitän, Matilda,
(was nicht verfing) so rasch es ging
nach Hause abzudrehn, Matilda.
Er sah mich an und sagte dann
mit einem Mal bloß »Nee.«, Matilda!
Ich griff ihn mir (ich wollt' zu dir!),
und warf ihn in die See, Matilda!

Die ganze Crew sah dabei zu,
sie war darob entsetzt, Matilda;
Und niemand sprach mit mir danach,
das hat mich sehr verletzt, Matilda.
Man ging dann gar (ja, das ist wahr!)
so weit, dass man mich mied, Matilda!
Da rächte ich mich feierlich
mit sehr viel Zyanid, Matilda!

Den Kelch hebst du, doch hör mir zu,
trink aus der Lethe nicht, Matilda!
Oft übte ich, erinnre dich,
für dich allein Verzicht, Matilda!
Bekamst du's mit, wie sehr ich litt?
Nicht alles war profan, Matilda!
Ob früh, ob spat was ich auch tat,
ich hab's für dich getan, Matilda!

Donnerstag, 5. November 2015

Kabarettsonett i

Kabarettsonett i: Am Schreibtisch eines öffentlich-rechtlichen Kleinkünstlers

»So ein Programm schreibt sich nicht von alleine,
und ich weiß kaum, wo ich beginnen soll:
Mein Kopf ist an Gedanken übervoll.
(Das stimmt nicht, doch Sie wissen, was ich meine.)

Wie fang ich an? Mit Hitler oder Heine?
Vielleicht per Wortspiel, denn das kann ich toll:
›Amerikbah!‹, haha, und ›Israoll‹.
Da nickt das Publikum und nippt am Weine.

Dann: Banken. Und die Kanzlerin geht immer.
Fiel Ihnen auf, wie sie die Hände hält?
Sie lacht auch nie! Und dafür kriegt die Geld...

Zum Schluss Monsanto, denn die sind noch schlimmer.
Wir gehen vor die Hunde! Das geschieht ip-
so facto (Bildungsbürgertum) durch TTIP!«

Dienstag, 3. November 2015

Kriminalsonett i

Kriminalsonett i: Beweisführung

Der Staatsanwalt erörtert das Geschehen:
»Frau M., Sie stachen auf den Gatten ein,
dann hackten Sie ihn kunstvoll kurz und klein,
mit einem Messer, wie Sie hier eins sehen.«

Er hält es hoch und lächelt sehr gemein.
»Nun wolln wir zur Entsorgung übergehen:
Sie schmissen seinen Kopf, den Rumpf, die Zehen,
die Arme und die Beine in den Rhein.

Dann wuschen Sie sich Ihre beiden Hände
(wer noch zwei Hände hat, dem geht es gut),
Sie wischten resolut das Blut vom Hut,

und fuhren frohgemut nach Hause. Ende.«
Da ruft M.: »Quatsch! So war es nicht, i wo! Der
Mann liegt doch nicht im Rhein, nein! (In der Oder.)«